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Kapitel 1 - Normalraum Kapitel 2 - Lethargie Kapitel 3 - Protokoll

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Kapitel 1 - Normalraum

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Er spürte nichts, nicht die Dunkelheit, die ihn umgab, nicht die Flüssigkeit, in der er schwamm und noch nicht die kleinen, minimalen elektrischen Impulse, die sein Gehirn stimulieren sollten. Als ihm letztere bewusst wurden, verblasste die Abwesenheit von allem. Die Pumpe lief mit einem Gluckern und einem Summen an. Ein ganz feines und unter normalen Umständen wahrscheinlich nicht spürbares Vibrieren fühlte sich an wie tausende Ameisen, die über Trent Buttlingtons Haut rannten und aufgeregt nach Nahrung suchten. Die Temperatur innerhalb des Tanks stieg langsam an und ließ langsam Gefühl zurück in die hypersensitiven Gliedmaßen kehren. Das Gel, in dem er lag, war während der Kryostase in einem wachsähnlichen Zustand. Nun wurde es immer Flüssiger. Buttlington bemerkte, dass der Auftauprozess schon weit vorangeschritten war und er so langsam aus seinem traumlosen Schlaf erwachte.

 

Automatisch setzte der Atemreflex ein, was unweigerlich zu einem Krampf im Brustkorb führte. Auch die Lunge war noch mit dem Kryogel gefüllt, das Schäden durch die niedrigen Temperaturen und das sich dabei bildende Wassereis vermieden hatte. Die Sensoren, an die er angeshclossen war, erkannten seinen Versuch frische Luft einzuatmen und die Maschine begann damit, die Atemwege frei zu pumpen und das Gel gegen ein mit Sauerstoff angereichertes Gasgemisch zu tauschen.

Als das Bewusstsein hinreichend weit zurückgekehrt war, versuchte Buttlington vorsichtig seine Augen zu öffnen. Die Netzhaut hatte seit Ewigkeiten kein Licht abbekommen und schmerzte, als er die ersten durch die umgebende Flüssigkeit gelblich gefärbten und unscharfen Schemen wahrnahm. Die Finger zuckten und nach einer Weile, das Zeitgefühl war noch nicht zurückgekehrt, konnte er seine noch etwas steifen Hände wieder bewegen. Eine mechanische, aber sehr ferne Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass der Prozess bald abgeschlossen sein würde und er sich bereit machen sollte. Kurz darauf hörte er ein nasses Zischen und der Druck im Inneren des Tanks nahm deutlich ab.

 

Buttlington versuchte langsam, den Oberkörper aufzurichten, musste jedoch innehalten, da er noch immer an die Kontrollsysteme des Kryostasetanks angeschlossen war. Es klickte und die Schläuche wurden automatisch mit einem leisen Schmatzen aus Buttlingtons Körper gezogen. Ein zweites Klicken verriet den Abschluss dieses Extraktionsprozesses, sodass Buttlington die Maske von seinem Gesicht nehmen konnte. Zum ersten Mal seit 805 Jahren atmete sein Körper von ganz allein frische Luft. Soweit das künstliche Gasgemisch an Bord des Schiffs als Luft bezeichnet werden konnte.

 

Mit den Fingern klaubte er die letzten nicht ganz flüssig gewordenen Reste des Kryogels von seinem Körper, tastete sich ab und untersuchte sich mit echter Neugier, ob noch alles wie gewohnt funktionierte. Die Beine waren noch etwas taub aber er erinnerte sich daran, dass seine Ärztin, Dr. Dollinger, ihm das vor der Kryostase als normal erklärt hatte. Die mechanische Stimme, die er vorher vernommen hatte, war nun viel klarer und begrüßte ihn. "Guten Morgen, Kapitän Buttlington. Sie sind aus der Kryostase erwacht. Die Schiffszeit ist 0:05 Uhr. Möchten Sie die Referenzzeit zur Heimat erfahren?"

"Nein", die Stimme kratzte und er musste heftig Husten. Dann fuhr er langsam fort. "Nein, lass gut sein. Wir sind nicht hierhergekommen, um in Erinnerungen zu schwelgen." Er war nicht sicher, ob er das zu dem Schiffscomputer oder zu sich selbst sagte.

"Die Kryostase der anderen beiden Kapitäne wurde ebenfalls erfolgreich beendet. In circa einer Stunde werden sie bereit sein, das gemeinsame Kommando zu übernehmen. Die Berichte der automatischen Überwachungen finden Sie in ihrem Terminal."

"Vielen Dank Betty. Ich werde sie mir gleich anschauen. Wie lange haben wir noch bis zum Eintritt in den Normalraum?"

"Wir werden das System wie geplant in etwa 5 Stunden erreichen."

"Betty, ich hätte gerne einen Kaffee."

"Aus medizinischen Gründen steht Ihnen die Option :Kaffee: derzeit nicht zur Verfügung. Bitte halten Sie sich an das Protokoll."

Das Protokoll, so nannten sich die im Vorfeld ausgearbeiteten Szenarien, die sich die Wissenschaftler überlegt und entsprechende Vorgehensweisen empfohlen hatten. Buttlington presste die Lippen zusammen und seine Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen. Er kannte die Vorgaben, aber er hatte auch das Bedürfnis nach einem koffeinhaltigen Heißgetränk. Da er keine andere Wahl hatte, ergab er sich seinem Schicksal. Er griff nach der Ausstiegshilfe und zog sich mit einem katerartigen Gefühl aus dem Tank. An einer Konsole nahm er sich einen chemischen, dezent nach Medizin schmeckenden Cocktail.

 

***

Buttlington stand in der kleinen Waschzelle seines Quartiers. Die Kapitänsquartiere waren mit kapp 45 Quadratmetern die größten Einzelquartiere an Bord des Schiffs. Sie boten Platz für ein wenig privaten Freiraum und waren mit einem eigenen Nahrungsmittelautomaten ausgestattet. Aber vor besaßen sie eine eigene Dusche und eine eigene Toilette. Es roch noch nach der Seife, die Buttlington eben verwendet hatte.

Er rubbelte sich die kurzen Haare mit einem weißen Frotteehandtuch. Dann schaute in den Spiegel über dem Waschbecken und beugte sich nach vorne. Mit einer Hand fuhr er sich über die mit kleinen kratzigen Stoppeln besetzten Wangen, richtete sich wieder auf und betrachtete seine leicht zitternden Hände. Er nickte und bestätigte sich damit selbst, dass es gut war, dass während der Kryostase sein ganzer Körper eingefrohren gewesen war. An eine Rasur war in mit den Nachwirkungen nicht zu denken. Zufrieden fuhr er sich durch die Haare, kontrollierte seine Zähne und die Augen. Das Katergefühl hatte schnell nachgelassen, als hätte er nur ein kleines Nickerchen gemacht. Aber es würde noch eine weile dauern, bis alle Begleiterscheinungen verschwunden waren.

Und überhaupt war noch nie zuvor ein Mensch über einen so langen Zeitraum eingefrohren gewesen. Das heißt, eigentlich schon. Auf den Pionierschiffen, die ihnen voraus gefahren waren, oder auf anderern Kolonieschiffen, die in andere Systeme unterwegs gewesen waren, hatten die Menschen die Fahrt durch den Hyperraum ja auch schlafend verbracht.

Aus seinem Kleiderschrank nahm sich Buttlington seine grüne Uniform heraus und zog sie an. Als er fertig war, bemerkte er die kleine rot blinkende Lampe neben der Quartiertür. "Betty, spiel die Nachrichten ab." Ein kurzes Piepsen kennzeichnete den Beginn der Nachricht. "Hey Trent, sind Sie schon auf den Beinen?" Die fröhliche Stimme gehörte seiner Ko-Kapitänin Merthe Koch, die für die Technik zuständig war. "Kali und ich werden uns gleich den Übergang anschauen. Vielleicht haben Sie ja Lust, dazuzukommen. Betty wird die Außenkameras ins Kommandozentrum übertragen. Wir treffen uns in ca. 30 Minuten."

Buttlington schaute auf sein Terminal, prüfte die Uhrzeit und glich sie mit der Zeit der Nachricht ab. Er hatte noch einen kleinen Moment. Am Nahrungsmittelautomat füllte er sich noch einen von diesen chemischen Vitamin- und Proteinshakes ab. Er roch kurz daran, obwohl er genau wusste, wie das Zeug schmeckte, und verschloss den Becher. Dann machte sich auf den Weg ins Kommandozentrum.

Das Kommandozentrum war im Zentrum des Schiffs gelegen. Dort war es in allen Situationen, die das Protokoll vorsah, am besten geschützt. Das Zentrum besaß doppelt besetzbare Konsolen für die Kommunikation, die Schiffssteuerung, die Überwachung des Schiffsstatus und die, hoffentlich nicht nötige Steuerung für die Waffen. In der Mitte des Zentrums und, da etwas tiefer gelegen, von den Konsolen aus gut sichtbar stand das taktische Pult. Es bestand aus einem großen runden Besprechungstisch und einer darüber angeordneten Konsole. Der große Systemkartenmonitor in der Mitte des Tischs war schwarz, da noch keine Systeminformationen vorlagen. Die Monitore der Konsole konnten je nach Bedarf die gerade benötigten Informationen anzeigen. Da die Außenkameras vom Hyperraum kein visuell darstellbares Bild liefern konnten, zeigten die Monitore gerade die Operationsparameter Hyperraumsprungspulen. Darunter blendete Betty einen Countdown ein, der gerade auf 13 Minuten umsprang. Siddharta und Koch hatten sich mit den Gurten der Sitze am Besprechungstisch festgemacht und unterhielten sich.

"Ah, da sind Sie ja. Haben Sie gut geschlafen, Buttlington?" fragte Koch. Kapitänin Koch war ein wandelndes Techniklexikon. Buttlington fand, dass sich die dunkelblaue Farbe ihrer Uniform mit dem stahlenden Blau ihrer Augen nicht vertrug.

Kali Siddharta war von schlachsiger gestalt und trug ihre, wie Buttlington fand, sehr schönen schwarzen Haare immer streng nach hinten gebunden. Ihre Uniform war in einem hellen Grau gehalten.

Beide Frauen saßen dort mit übereinander geschlagenen Beinen und nach vorne gebeugt und sogen gelegentlich an den Strohlamen ihrer Proteinshake-Becher.

"Nun, das Nickerchen steckt mir noch in den Knochen. Wie geht es Ihnen?"

"Es wird noch eine Weile dauern, bis sich unsere Metabolismen von der Kryostase erholt haben. Dementsprechend war nicht zu erwarten, dass wir nichts merken würden. Ich fühle mich den Umständen entsprechend angemessen." sagte Siddharta.

Buttlington sah Koch an. Sie waren an Siddhartas Eigenart gewohnt, dennoch waren sie immerwieder irritiert. Koch zuckte nur mit den Schultern, dann kehrte ihr Lächeln zurück.

"Mir geht es auch gut. Den Umständen entsprechend." Sie schielte kurz zu Siddharta hinüber, die diese Spitze jedoch nicht bemerkt zu haben schien. "Danke der Nachfrage."

"Gleich ist es soweit! Unser neues zu Hause! Ist das nicht aufregend!" Buttlington nahm auf einem der Sessel platz und schnallte sich an.

"Ich hoffe, die Pionier-Schiffe haben ihre Arbeit ordentlich gemacht. Wir haben einen strengen Zeitplan." Koch war für die technischen Aspekte der Kolonie zuständig. Darunter fiel auch das Entladen der Frankobritannica und die Installation von Wohn- und Nutzanlagen für die Kolonisten. "Wenn nicht, werden wir denen etwas Feuer unterm Hintern machen müssen." Sie meinte es halb im Scherz und halb ernst.

"Sie brauchen so lange, wie sie eben brauchen. Wir sollten nichts überstürzen und unser weiteres Vorgehen an die gegebe Situation vor Ort anpassen," sagte Siddharta ohne die Ironie der Aussage ihrer Kollegin verstanden zu haben. "Wir sollten unsere Kollegen unterstützen, wo wir nur können und die Kolonisten erst dann wecken, wenn es Sinn ergibt. Nicht vorher."

Koch verdrehte die Augen und schaute zur Seite. Buttlingtons Aufgabe war die Zusammenarbeit der ersten Besatzung und die politische Koordination bis eine gewählte Regierung oder Führung übernehmen konnte. Er war ausgebildeter Soziologe und Mediator. "Wir schauen uns erst einmal an, was wir gleich sehen. Dann überlegen wir weiter. Am Ende haben wir ohnehin das Protokoll, auf das wir zurückgreifen können"

Die verbleibende Zeit auf dem über ihnen hängenden Bildschirmen schrumpfte während ihrer Unterhaltung unermüdlich weiter. Betty unterbrach sie mit einer Warnung. "Austritt aus dem Hyperraum steht kurz bevor. Bereit machen zur Schwerelosigkeit in 3... 2... 1... - Übergang in den Normalraum abgeschlossen. Bild der Außenkameras wird nun angezeigt."

Gebannt starrten die drei Kapitäne auf die Monitore. Betty hatte zur besseren Sichtbarkeit das Licht in der Kommandozentrale etwas gedimmt. wobei die Anzeigeelektronik das Licht im Kommandozentrum etwes reduzierte, sodass das Bild besser sichtbar war. Das Ziel-System war mehr als 2000 Lichtjahre von der Sonne entfernt, wodurch sich vollig neue Konstellationen ergaben.

Betty fiepte und einen kleinen Moment später wurden die Himmelskörper des Systems wurden auf den Bildschirmen optisch hervorgehoben und kurz darauf auf dem Systemkartenmonitor dargestellt. Das erste was unmittelbar sichtbar war, war der helle leicht gelbliche Stern, der schon während der Planung der Kolonie auf der Erde sehr unkreativ, aber für alle akzeptabel "Novum", etwas neues, genannt wurde. Kurz darauf wurden die kleinen Scheibchen der Planeten des Systems sichtbar. Betty hatte sie digital vergrößert und daneben gleich einige wichtige Parameter angezeigt.

Buttlington konnte sich ein entzücktes Quiecken nicht verkneifen. Sogar Siddharta zeigte einen Gefühlsausbruch indem sie einen Mundwinkel leicht nach oben hob. Koch hingegen kam wie Buttlington aus dem Staunen nicht heraus. Das war an ihrem ehrfürchtigen Schweigen und offen stehenden Mund für Buttlington leicht zu erkennen. Sie merkte nicht einmal, wie ihr ihre langen, offen getragenen Haare immer wieder ins Gesicht trieben.

Dort draußen waren die zwei blau-grünlichen Kugeln, wegen denen sie überhaupt hergekommen waren. Ein System mit zwei erdähnlichen Welten, von denen jede eine sauerstoffhaltige Atmosphäre mit eindeutigen Biomarkern aufwies. Der absolute Hauptgewinn der Astronomie im späten einunzwanstigsten Jahrhundert. Das System hatte aber tatsächlich noch mehr zu bieten. Sternwärts gab es noch einen kleineren Felsplaneten. In die andere Richtung kreisten ein jupiterähnlicher Gasriese mit mehreren Monden und ein von zwei Asteroidengürteln eingeschlossener Eisriese, ähnlich dem Neptun.

"Unsere Distanz zum nächsten erdähnlichen Planet beträgt 179,8 Lichtminuten. Die Kontaktaufnahme wird gestartet." Betty unterbach die Stille.

Koch, Siddharta und Buttlington schauten einander an. Nun begann ihre eigentliche Arbeit. Die Kommunikation mit den Pionierschiffen zu etablieren war der der erste Schritt der vierten Phase des Protokolls, die jetzt nach der Rückkehr in den Normalraum begann. Danach waren diverse Messungen der Planeten durchzuführen, die Funktionalität der Schiffsysteme zu kontrollieren und die erste Besatzung zu koordinieren. Sie nickten einander zu und Koch gab den Befehl. "Betty, sende unsere Grußbotschaft an die Pionierschiffe. Lass sie wissen, dass wir da sind." An die anderen beiden gewandt ergänzte sie: "Dann mal an die Arbeit!"

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